Freitag, 8. Mai 2015

Die Gegenwart der Vergangenheit

Liebe Deutschsprachige in Brasilien,

wie in fast allen größeren Städten haben auch in Manaus die Viertel verschiedene Namen. Dort, wo ich lebe, scheint der Name nicht ganz klar zu sein: So wird die Gegend oft „Praça 14 (de janeiro)“ genannt – eindeutig mein Favorit: Schließlich ist der 14. Januar mein Geburtstag. Manche ordnen meinen „Kiez“ auch einfach dem Zentrum zu; am häufigsten findet sich jedoch die Angabe „Presidente Vargas“. Für mich Anlass genug, ein wenig zu forschen: Ich bin zwar kein Experte der brasilianischen Geschichte, aber war Vargas nicht ein nationalistischer Diktator? Und auch der bekannte Ausflugsort mit den vielen Wasserfällen, ganz in der Nähe von Manaus: Wieso heißt er Presidente Figueiredo? Offenbar wurde die Stadt in den 80er Jahren nach dem Militärdiktator benannt.
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Getúlio Vargas, Quelle: Wikipedia
Wer ein wenig im Netz forscht und Artikel liest, findet schnell heraus, dass es eine Menge Schulen, Straßen und Plätze gibt, die nach Vargas und sogar nach Filinto Müller benannt sind. Unter den Durchschnittsbrasilianern gilt Vargas sogar als einer der beliebtesten und progressivsten Präsidenten, die das Land je hatte. Präsident Getulio Vargas – Mann des Volkes, Vater der Armen, der Arbeiter, größter Staatsmann in der brasilianischen Geschichte, Förderer der Industrialisierung, Patriot – dieses Bild scheint immer noch zu überwiegen. Ein kurzer Blick auf seine Biographie und Sekundärliteratur zeigt: Der Diktator war unter Anderem ein Hitlerverehrer mit antisemitischen Tendenzen, der seine Gegnerin Olga Benario an Hitlerdeutschland auslieferte, wo man sie 1942 in der Gaskammer des KZs Bernburg umbrachte. Und sein Name ist heutzutage überaus präsent. Sogar ein Wirtschaftsforschungsinstitut ist nach ihm benannt.

“Dieser Teil der Geschichte wird vergessen, unterdrückt, zensiert – da türmen sich Barrieren auf“, betont die Historikerin Maria Luiza Tucci Carneiro von Brasiliens größter Bundesuniversität in Sao Paulo. „Vargas hielt engste Beziehungen zu Nazideutschland, kooperierte mit der Gestapo, die seine politische Polizei ausbildete. Man redet heute nicht über jene Geheimdekrete, mit denen Vargas Einreisevisa für bedrohte, verfolgte Juden verbot – der sichere Tod für viele von ihnen in den Konzentrationslagern. Allein für Deutschland habe ich bisher über fünftausend abgelehnte Visaanträge dokumentiert – und es sind noch viel mehr! Auch polnischen, österreichischen Juden wurde die Einreise verweigert. Man redet heute nicht über die Mitverantwortung Brasiliens an der Judenvernichtung. Und nicht nur Olga Benario wurde ja deportiert, viele andere Jüdinnen ebenfalls.“

1930 kommt Vargas durch einen Putsch an die Macht; ab 1933 betreibt er bereits eine starke Annäherung an Hitlerdeutschland, gleichzeitig nimmt die Repression gegen linksgerichtete Juden zu, werden die jüdischen Gemeinden immer stärker überwacht. Erst 1942 bricht Diktator Vargas mit Nazideutschland – auch unter dem Druck der USA. 1945 wird Vargas durch einen seiner wichtigsten Köpfe, Marschall Eurico Dutra ersetzt - Kriegsverbrecher, hohe Funktionäre Hitlers finden nun auch in Brasilien geradezu massenhaft Unterschlupf. 1951 gelangt Vargas durch Wahlen erneut an die Staatsspitze,1954 begeht er Selbstmord.

Sechzig Jahre später wird er immer noch glorifiziert. Nach Filinto Müller, dem berüchtigten Chef und Oberfolterer der politischen Polizei von Vargas, sind in Brasilien Schulen, Plätze und Straßen benannt. Getulio Vargas wird immer wieder wegen des von ihm eingeführten Arbeitsrechts, wegen sozialer Verbesserungen gerühmt. Historikerin Carneiro widerspricht dieser These. „Die Arbeitsgesetzgebung war weitgehend wirkungslos, wir haben keine bessere Einkommensverteilung, die sozialen Kontraste blieben scharf.“
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Presidente Figueiredo, Amazonas. Quelle: verdejava.com
Anmerkung: Die Feststellung, dass nicht wenige Nationalhelden verschiedener Länder wenigstens zwiespältig zu betrachten sind und dass im Bereich Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit Defizite bestehen, betrifft selbstverständlich nicht nur Brasilien. Da ich mich jedoch gerade mit diesem Themengebiet im Bereich deutscher und osteuropäischer Geschichte befasst habe, ist mir dieser Aspekt sofort aufgefallen, zumal ich mich besonders für die Beziehung der Menschen mit ihrer eigenen Vergangenheit interessiere. Entsprechend möchte ich mich nicht wie der große Moralapostel aufspielen, aber dennoch alle Seiten einer Medaille beleuchten.

Mehr zum Thema:
Deutschlandradio, 2007: 
Hausarbeit über Vargas/Salazar: 

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